„Dass ich sie kennengelernt habe, verdankt sich dem Zufall“, sagte Grünmann zu Frau Grünmanns Familie. „Zufälle versagen sich der Natur jeder Beschreibung. Sie sind zu vergessen. Wie alles.“
In der Provinz bekam im Spätjahr Grünmann Frau Grünmann angetraut. Sodann marschierten sie durch den Herbstwald Grünmanns Heimatstadt entgegen. Blätter raschelten bunt und gelb. In den friedhöflichen Gieswasserreservoirs schwammen abgeworfene Igel.
Man war im allgemeinen erleichtert, dass es Grünmann wieder in die Stadt zog. Seine Provinzaufenthalte nämlich waren, obwohl sie ihm einen tiefen inneren Gleichmut bescherten, weshalb er sie, zurückgekehrt in die Stadt, zum Ärger der Nachbarn lauthals und mehrmals am Tage pries, nichtsdestoweniger eine Anhäufung kleiner und mittlerer Katastrophen. Ohne dass er es wollte, hing Unheil an ihm, wie ein Schatten, der sich ausbreitete, wo er verweilte. Im Südwesten der Republik putschte auf seine Anwesenheit hin die freiwillige Feuerwehr und massakrierte den Gemeinderat mit den Gerätschaften aus dem Vorrüstwagen. In sich gekehrt wanderte Grünmann vom Schwelbrand in der Lüneburger Heide zur Reisberger Viehseuche, die Ruhreinschleppung im Oberfränkischen wurde auf ihn zurückgeführt, aber immer schon hatte Grünmann die Grenze passiert, und die Förster, die ihm nachstellten, kehrten starrenden Auges und ohne Hunde zurück in die Dörfer, auf immer sprachlos, als sei die Seele von ihnen gewichen.
Grünmann kam stets unbehelligt daher, und nicht einmal das Sinken der Sonne, der Einbruch der Nacht beruhigte den Wandernden, den es seinerzeit zum letzten Mal ziellos, später wird man sagen: zur Brautschau hinausgetrieben hatte, unverhofft ins wechselhafte Wetter.
So erreichte er gründonnerstags Wald. Gewaltiges Nadelholz stand an gegen die blatthölzerne Minderheit der Akazie, Buche, Eiche, Esche und Kastanie. Der Boden dampfte, und Grünmann sog an den duftenden Gasen des Moders. Südlich von Karlsruhe stieg er ins Flussbett des Rheins hinunter und als er nach der in frühjährlicher Kühle anstrengenden Durchfurtung die Uferböschung erklomm, brach eine Siedlung durch den Nebel.
Das Netz ihrer im Morgen ergrauenden Träume war zum Zerreißen gespannt. Hie und da stießen Pilze und hellhäutige Elfen hervor. Grünmann roch die Verjüngung bei jedem Schritt. Schließlich war er eingetreten in die überaus grünen Hügel des Wasgau. Die Sonne stieg hinter ihm auf und schickte ihm seinen Schatten voraus. Es breitete, während er trocknete, sich seine Müdigkeit aus und als sein Schatten so lang wie er selbst war und ein besonntes Moosbett befiel, legte sich Grünmann darüber wie eine Decke, und er schlief behütet ein.
Grünmann: Organist, Marionettenbauer, Cellist. „Dem Zufall verdankt sich nichts“, sagte Grünmann zu Frau Grünmanns Familie. „Wir kennen ja die kosmischen Geschwindigkeiten. Die points of no return. Wo die Rückkehr in die Sprache gefährlicher wäre als der Durchmarsch in die Welt. Die Welt beginnt, wo der Sinn aufhört. Nichts haben wir mehr zu befürchten, als dass wir eines Moments das zu erleben haben, was wir jetzt verstehen. Man kann von Todesangst sprechen. Die Angst, seinen Tod nicht zu finden. Immer weiter, Tag für Tag, hinaus in den Kosmos. Oder umgekehrt: in die sich in dir expandierende Fremdheit.“
Grünmann nahm Frau Grünmann mit zu sich in die Stadt. Warm und golden stand die Abendsonne über der Spree. Drüben in der Thermik grünender Auen kreiste geruhsam der rote Milan, und hier im Staub der Promenade wälzten sich rauchende Betrunkene. Erhitzt von der Wärme des Tages waren sie hervorgetreten aus den Öffnungen der Häuser, und feierabends betrachteten sie nun die entblößten Ärsche von unten fotografierter Frauen. Mit mürben Zähnen bissen sie ihren Bierflaschen die Hälse ab, und während sich ihre Geschlechtsorgane in die tanzenden Mückenschwärme hinein aufrichteten, begann in der ganzen Stadt das Idyll im Rhythmus seines Selbstgenusses zu atmen.
Die Grünmanns hatten großes Glück: mit ihrem Wagen, mit ihrer Bank, mit ihrem Kind: ihr Wagen war schon drei mal um den Äquator gefahren und fuhr immer noch. Ihre Bank hatte schon einen ganzen Güterzug mit Geld umgesetzt und setzte immer noch um. Und ihr Kind! – Ja, ihr Kind! Es war nachts wie alle Kinder: unsichtbar. Und es war im Lärm wie alle Kinder: sprachlos. Vielleicht haben sie ein Kind. Eine im Lärm schlummernde kindliche Nacht. Sie wissen es nicht. Und wenn sie es wüssten? Ja, wenn…!
Die Grünmanns tappten völlig im Dunkeln und waren wie Kobolde auf Zufälle angewiesen, die sie selbst hervorbringen mussten. Auf das, was nicht beschrieben werden kann. Weil sich eine Wiederholung nicht denken lässt. Was also vergessen werden muss. Aber schlimmer: man erinnert sich an nichts.
Immer, wenn Grünmann mit Frau Grünmann zu Tische saß und Frau Grünmann nah bei Herd, Gerätschaftentruhe und Speisekammer ihm gegenüber saß, und der täglich mehrmals immer wieder aufflammende Kampf gegen Grünmanns Hunger vollkommen von den Handreichungen Frau Grünmanns geführt wurde, dann fragte er sich, ob er immer schon einen Namen gehabt hatte, oder ob nicht einfach ein bestimmter Versorgungsnotstand mit „Grünmann“ bezeichnet wird. Er wollte nicht gestorben sein, ohne herausgefunden zu haben, wie Frau Grünmann es machte, dass Grünmann am Leben blieb, und er fing an, in sie hineinzustarren. Es schlief ihr Ding in allen Gliedern. Wölbungen, Brüstungen, Gebäume und Gestöhne. Am Schenkelschluss paaren sich die Hände. Aufrecht wie Latten. Ins Hosenbein tröpfelt der Restschlaf, und der Angstschweiß apokalyptischer Träume passiert ritzenweis Türschwell und vermischt sich eine Treppe tiefer mit dem Schweiß stöhnender Athleten. Spieglein, Spieglein in der Hand, sag mir, was ist hinter der Wand. Das Ding regt sich und legt sich wie Mühsal und schlafende Hunde vor die Tür. Das Ding entwickelt sich langsam und zielt mit Fingerkuppen auf’s Haus: DIES! Es presst sein Ohr an die Wand. Ist es drinnen schon hell? Es wird durch’s Fenster geschossen. Ein berühmtes Gesicht sickert durch die Hände am Schneidetisch. Jemand kehrt vor der Tür. Haare und Samen. Grünmann war ins Machtzentrum gelangt. In den Raum hinter dem Boudoir, vor das freigekratzte Loch in der Rückseite des Spiegels, in dessen Sehfeld sich Frau Grünmann zivilisierte. Eines Tages zerrte Frau Grünmann Grünmann in die Kabine und ließ sich besteigen. Das Gebäude erzitterte, und der Spiegel fiel zu Boden. Der Glanz des Auges hinter dem Spiegel war gebrochen, als der Spiegel erblindete. Auf der Straße vor der Anstalt wurden die Bullen abgeschlachtet. Jetzt waren alle verloren. Jeder hatte jetzt einen, der ihn suchte.
Frau Grünmann aber war schwanger geworden. Sie verwandelte sich in ihren Bauch. Grünmann lag immerzu neben ihr. Neben dem Bauch. Der verwandelte sich in den Schrei. Vielleicht hat Grünmann ein Kind. Eine im Lärm schlummernde kindliche Nacht. Und eines Moments, plötzlich, tauscht sich der Lärm gegen das schlummernde Kind. Und der Lärm ist der schlummernde Schrei. Wir wissen es nicht. Und wenn wir es wüssten? Ja, wenn…!
Auf einmal war Grünmann die Frau weggestorben. Es muss sie der Wille, mich zu stillen, verlassen haben, so überdachte Grünmann das Rätsel. Im Traum noch irrte er hilflos durch Frau Grünmanns Brustraum, sein Ruf hallte in den Warzenhöfen, doch nichts brachte ihm das Untier zurück, die sprachlose Brandung, das aus dem Aug herabstürzende Geröll aus Trauer und die Verlorenheit, die im All manchmal zu Menschen gerinnt. Von einem Atemzug zum anderen war ein Sturm in ihm aufgebrochen und hatte die Mauern seiner Unersättlichkeit wie nichts zerstäubt. Weg- und ziellos wie in ein Schiffswrack war ihm sein Herz zwischen die Rippen gefahren, und in ihm heulte der Wind.
Grünmann war umgezogen, oder: unverdaut hat ihn der riesige Walfisch in die Arme der Mieter gespien, und so war er über Nacht mit einer Drastik, wie man sie jungfräulichen Geburten nachsagt, ins Haus gekommen. Die ganze Nacht hatte sich aufgebläht und der Unruhe entgegengestemmt. Autotüren schlugen. Im Hof rannten genagelte Stiefel und knappe Rufe. Es war wie bei einer Verschleppung. Flügel hier und da und dann überall wurden von den Fenstern geschlagen. Am Ende der neugierigen Blicke huschten die Schatten aufgescheuchter Träume. Die Mauerritzen sogen sie ein, schnell wie das Licht. Ein blaues Zucken. Dann war Grünmann im Haus. Im Haus waren die Geräusche der Alpträume. Das Haus war von äußerster Fremdheit. Grünmanns Wohnraum grenzte ans Dach. An Himmel und Sterne. An Haus und Hof. Nachts stieß er an lichterne Vierecke. Grünmanns Hängematte war quer durch den Raum gestrafft. Riesige Haken in den Wänden. Über dem Boden schwankt Grünmann leicht. Ein dürrer Mann mit pergamentener Haut über dem Schädel unter den Haaren über dem Hirn. Die vielen Dübel in den Wänden deuten auf Grünmanns Unruhe: Nie war er lang richtig gelegen. Dann saß er endlich starr und stumm in seiner Hängematte, wie gelähmt. Er betrachtete seine Nachbarin. Geradewegs über den Hof durch die Nacht in die beleuchtete Wohnung. Sie telefoniert. Grünmann spürte, wie die Angst vor der Lähmung schon vor der eigentlichen Lähmung lähmt. Nachts ziehen Rauchschwaden an den erleuchteten Fenstern vorbei.
Weil es Winter war, vertrieb Grünmann mit dem Eise die Zeit. Er goss Wasser in Formen, die er überall fand. Jeglicher Hohlkörper war ihm von Nutzen. Der Blumenkübel, die Badewanne, der steifgefrorene Unterrock, das Auto. Das zeitlose Wasser gefror und sprengte die Formen und hatte augenblicklich ein Alter in Form von Figuren aus Eis, und die Figuren alterten in dem Maße, in dem sie den Mietern zur Last wurden, denn Grünmann vermehrte sie täglich, auch dann noch, als die Mieter sich ernstlich zu beklagen begannen. Immer schwieriger wurde ihr Weg durch den Hof. Aus Grünmanns Beteuerung, bald würde es tauen, war Mitte März jeder Trost verschwunden und schließlich gab er bekannt, er selbst würde die Misere beenden. Mehrere Tage hindurch schleppte er dann die Figuren aus den drei Höfen auf einen Haufen im mittleren Hof. Sodann schaffte er etliche Blechtonnen herbei, belud sie randvoll mit Kohlen und heizte kräftig ein. Eines Abends, als die Dunkelheit über das Haus hereinbrach, stand dann ein gutes Dutzend Blechtonnen in praller Rotglut und besonnte den Hof. Grünmann blieb weiterhin emsig. Sein vielfacher Schatten flatterte an den Wänden entlang. Die Mieter versteckten sich vor der heillosen Welt in ihren Fernsehapparaten, die wie gereizte Vulkane Katastrophen ausspien. Nach der Tagesschau wagten sie sich wieder ans Fenster. Grünmann war jetzt mit einer Schaufel bewaffnet. Die stieß er in die Glut hinein, schwang sie dann mit einer Rumpfdrehung so, dass die Glut in hohem Bogen herab auf die Figuren regnete und zischend schoss eine Dampfwolke auf. Immer wieder, wie ein Heizer, wiederholte Grünmann diesen Vorgang, der Nebel verdichtete sich schnell, und bald war er undurchdringlich, als die Glut und das Eis sich gegenseitig verzehrten und das Wasser sein Alter wieder vergaß.
Den Mietern aber verschwanden die Konturen aus den Augen, und nur noch die rote Glut drang zu ihnen, wie sie aufflog, herabregnete und verblasste. Aus aufgerissenen Fenstern ragten Köpfe an langen Hälsen weit in den Nebel hinein. Schreie wurden ausgestoßen. Aber der Nebel isolierte die Schreie. Bettete sie in Watte. In ihrer Angst sickerten die Mieter aus den Gebäuden in den mittleren Hof. Sie fassten sich bei den Schultern, damit sie sich nicht verlören und tasteten sich zu Grünmann hin. Zu dessen Füßen hatte der Teer bereits Feuer gefangen, und die Mieter wurden von der Furcht ergriffen, Grünmann würde die Decke schmelzen, auf der sie standen und die sie vor den Eingeweiden der Erden beschützte. Als Grünmann sie aber nicht beachtete, entschlossen sie sich schließlich zum Ruf nach der Feuerwehr. Sofort bezog sie Stellung im Flur des ersten Hinterhauses. Der Hauptmann zielte und gab ein Signal und ein baumstarker, eiskalter Strahl wurde in Grünmanns Rücken katapultiert. Eine unwiderstehliche Gewalt brach in Grünmanns Brustraum ein und packte ihn und schleuderte ihn gegen die Brandmauer.
Er wurde beim Aufprall so schwer verletzt, dass er geradezu für tot hätte gehalten werden können. Die Mieter aber erhielten ihn am Leben, das sie ihm während seiner Bewusstlosigkeit allerdings völlig entrechteten. Als Grünmann wieder zu sich kam, war fast sein gesamtes Eigentum in die Hände der Mieter gefallen, doch er sah ein, dass ihn sein kurzes Spiel auf lange Sicht seinem Glück angenähert hatte: als langsam wiederkehrende Kräfte es zuließen, dass er seiner Hängematte entstieg, warf er sich einen schweren Kolter um die Schulter und ging im Raum hin und her, um manchmal am Fenster zu halten und in den Hof zu schauen. Dort gewärtigte ihn der Rest seiner Figuren mit ihren gläsernen Körpern, in denen glühende Kohlen beim Einsinken erstarrt waren und die rote Wintersonne ging, in den Frühling sich wendend, sachte in diesen Bernsteinen einher.
So schritt Grünmann in seinem Würfel auf und ab, den er sich in den Schlaf gemeißelt hatte. Er plante sich hinweg. Zwischen haushohe Disteln und mannsgroße Zykaden. In den korykischen Liebesakt, wo die Erde sich mit dem Erdkern vermählt. In die nächtlichen Fenster. Eine nackte Mieterin schaltet sich weg. Das Metronom faltet die Schatten sich entziehender Tatsachen.
Grünmann: Bis ins Alter war Grünmann immer wieder Cellist gewesen. Zeitweise Organist. Nie hat er die Fähigkeit, Marionetten herzustellen über einen nennenswerten Zeitraum hinweg eingebüßt. Stets war er bereit, Handlungsabläufe zu erfinden und Maschinen zu konstruieren, die den Sinn seiner Erfindungen vor der Einsichtigkeit in Schutz nahmen. Außer seiner Hängematte war ihm sein Cello geblieben. Zwischen seinen Knien arpeggiert es. Es taktet nachtmährisch dumpf eine Weihnachtsschachtel. Die Mieter hören synchron, dass eine Forstgenbank die Informationen der heimischen Wälder ein für allemal sicher stellt.
Grünmann nestelte an seiner Hängematte. Ein entschlossener Ruck, und der hartnäckige Sicherungsknoten brach. Die Matte franste aus, und eine Masche nach der anderen lief zu Grünmann über. Sein Bett erübrigte sich in hundert Metern Hanf. Grünmann spürte, dass dies ein Anfang sein konnte, der Anfang vielleicht der wichtigsten aller seiner bisherigen Erfindungen. Die Tonkiste würde geschlachtet werden müssen. Das war sicher. Ein Fausthieb zerschlug ihr das Rückgrad. Das Cello sank in sich, sein Hals nickte ihm vor die Augen, der Steg flüchtete ans Ufer, und der Stachel blieb in der Leiche zurück. Splitternde Tanne. Grünmann, blutüberströmt, drehte ihr die ebenhölzernen Knochen aus den Ohren und fledderte ihr die Sehnen aus der Brust. Ja, so sehr eiferte Grünmann, dass nicht viel gefehlt hätte und er wäre dem Gesang der Sirenen gefolgt, aber Grünmann blieb bei seinem Namen. Er atmete tief und fand sich selbstbewusst: ein Widerpart lösbarer Probleme. Missstandsbeseitiger Grünmann.
Aber gab es Missstände? Da war nur mehr Grünmann und die Ratlosigkeit, mit der ein Hanfseil und ein massakriertes Cello Grünmann ansahen. Die Maschine hat vier schwarze Knöchelchen, hat ein Silberding und hat langes Haar. Der ganze Weltkörper war gesegneten Leibes mit Grünmanns Maschine. Und hört: die Sonnen kreisten! Wo hielten sich die Ohnmächtigen, wo die Ungeliebten versteckt? Vergingen alle Sternschnuppen unbewunschen? Auch Grünmann hatte einen guten Tag gehabt. Er hatte trotz Spinat Trauben im Wein geschmeckt und trotz der Trauben Eisen im Spinat. Leibhaftige rostige Nägel. Er hatte ein gesundes Tier gefressen und war freigiebig gewesen: er hatte Berber mit Groschen beworfen und zahlreiche Unterschriften geleistet. Und die Sonne. Ach, die Sonne! War sein kaleidoskopisches Aug hinter Wolkenscherben.
Nun stand er in seinem Wohnraum vor der Nacht. Unter seinen Füßen geriet die Erde in Bewegung. Grünmann entknäuelte die Hanfschnur und wickelte sie zwischen Daumenbeuge und Ellenbogen. Und dann fiel es ihm ein: „Wir müssen unsere Genussfähigkeit steigern!“, schrie er zum Nachteil der Nachtruhe, ein dürrer Mann und malte übermütig, in der Rechten das kreisende Lasso, einen Tango auf’s knarrende Parkett, die Kerze schwenkte mit großem Hallo zitternde Schatten aus dem Fenster wie Grünmann über die Dielen huschte auf dem wogenden Rumpf. Im ganzen Haus fielen die Regale um, und Köpfe schlafender Mieter rollten aus den Fächern, traumvolle Schädel krachten auf die Böden, und die Mieter, denen sie jeweils gehörten, fuhren jäh auf, stürzten brüllend zu den Lichtschaltern, damit jeder sie sähe, wie sie ihre furchtbaren Fäuste gegen Grünmanns Boden warfen. Seit Grünmann hier wohnte, war er ihnen eine Last. Warum aber konnten sie ihn, der doch gutmütig war, nicht aushalten und heulten stattdessen wie ein blutäugiger Wolf in der Nacht? Grünmann verstopfte seine Ohren mit Wachs, das er sparsam mit nacktem Ringfinger aus der Kerze tunkte. Als der Sturm anhielt, kämpfte er sich durch die Zinkluke aufs Dach, rittlings fand er Halt auf dem wellengespülten First, arbeitete sich zentimeterweise vor und drehte die Antennen aus dem Wind. Das linderte die Not. Grünmann kroch zurück. In seinem Raum die Kerze war umgefallen und erloschen. Aber er musste nichts mehr sehen. Das wenige, das er noch hatte, lag an den Plätzen, die er kannte. So setzte er sich sorglos auf den Boden und spürte gelassen, wie das Haus sich von der Kränkung erholte. Der Augenblick war günstig. So ruhig und unangefochten war Grünmann noch nie im Sattel gesessen. Er hatte alles, was er brauchte, und darüberhinaus noch eine erloschene Kerze. Er hatte nichts zu fürchten, nichts zu hoffen und nichts zu bereuen. Es war also eine vollkommene Ruhe eingetreten.
Besonnen nahm Grünmann den Hanf, spleiste ihn auf und machte ihn zu einer wilden Frisur. Die setzte er der Schnecke auf und fixierte sie mit dem Stachel. Er bewehrte den Hals mit den Splittern aus dem Rücken. Er steckte ihr vier lange Drähte in die Ohren und setzte ihr vier schwarze Augen ein. Jetzt konnte sie sehen und hören, sie starrte vor Waffen und hatte eine Frisur. Nur der Steg war noch übrig und den hielt Grünmann sich aufmerksam an die Schläfe. Alle Töne, die je über ihn ins Freie gelangt waren, hatten auf ihm ihre Spur hinterlassen. Diese Spur aufzunehmen, sie wie ein Schweißhund durch den ganzen Kosmos zu verfolgen, ihr Haar dabei als Wegweiser hinter sich spinnen: diese Funktion verlieh Grünmann jetzt seiner Maschine und gab ihr den Steg als Gedächtnis mit. Die Maschine soll mir, so sagte sich Grünmann, den Weg zu der Brutstätte der Klänge markieren, ins kosmische Rauschen, von wo all das kommt, wozu sich ein Ohr findet, es zu erhören.
Wir aber wissen nicht, ob Grünmanns Maschine funktioniert. Und wenn wir es wüssten? Ja, wenn…! Wir haben uns Grünmanns Existenz apoplektisch zu denken. Gutmütige Mieter würden ihn anderntags entdeckt, in gestärktes Leinen eingeschlagen und zwischen zwei leichten Rohren aus dem Haus getragen haben. Bald wäre er staunend erwacht. Freundliches Krankenhauspersonal in weißer und grüner und blauer Mietwäsche hätte Grünmanns Tod ins Ungefähre zurückgetrieben. Er wäre mit einer halbseitigen Lähmung davon gekommen, und eines Tages hätte man begonnen, ihm die menschlichen Gewohnheiten zurückzubringen. Man hätte ihn zum Beispiel lange Zahlenreihen aufsagen oder auf einem Orff’schen Instrument mit der Musiktherapeutin spielen lassen können. Übermütig wie ein Kind würde man sich Grünmann zu denken gehabt haben.
Aber Grünmanns Übermut ließ nach. Am Ende war er nur noch in seinem Atemgeräusch außer sich und gab kein Wort und keine Exkremente mehr von sich, er fasste nichts und niemanden mehr an und hielt die Augen geschlossen. Er aß auch nichts mehr und trank nichts mehr und drang in kein Weib mehr ein. Aber er starb nicht. Und die Mieter, so sehr sie auch suchten, und sie dehnten ihre Suche aus bis auf die Makulaturen der ältesten Häuser, fanden in der ganzen Stadt kein Gesetz, das ihnen sagte, wie wenig Leben einer mindestens haben muss, um Wohnraum beanspruchen zu können. So blieb Grünmann bis zur Neige seines Mietkontos über Tage. Dann traten mehrere Mieter an sein Bett heran, auf dem er lag in einem für jedermanns Augenschein unveränderlichen Zustand. Sie umstellten das Bett wie hochgewachsene Bäume und beugten sich zu Grünmann hinunter, so dass ihre Köpfe sich gegenseitig berührten und ihre Frisuren sich ineinander verfilzten. So schatteten sie die Stelle, auf der Grünmann lag, ab und absorbierten das zarte Grün der Lichtung. Das folgende geschah völlig geräuschlos, als würde es tief unter der Wasseroberfläche geschehen, oder als würde Grünmann von einer ferneren Macht, die sich der Mieter bloß bediente, abgesogen.
Damals wurde Grünmann aus seiner Wohnung herausgenommen und in einem seit langem unbenutzten Keller aufgebahrt. Sein Atemgeräusch war im Kellergewölbe weithin zu hören. Doch nichts weckte ihn auf. Die Mieter wurden älter und starben. Neue Mieter kamen auf die Welt. Sie kamen und gingen, während Grünmann unbehelligt blieb. Die neuen Mieter aber erkannten jeweils erst nach vielen vergeblichen Versuchen, ihn loszuwerden und erst mit zunehmendem Alter, dass es Grünmann gelungen war, nach und nach alle Gründe aus der Welt zu schaffen, die dafür sprachen, ihn aus der Welt zu schaffen. Er wurde in regelmäßigen Abständen medizinisch und polizeilich kontrolliert, und in unruhigen Zeiten patrouillierten auf den Fluren des Kellers zahlreiche bewaffnete Mieter. Eine Ordnung hatte sich gebildet, eine feste Haut war um Grünmanns Schlaf gewachsen, worin er lag, so tief, dass keine noch so energisch auf ihn abgezielte Tatkraft je zu ihm hinabzutauchen vermochte.